Seitdem sie 2022 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, hatte ich mir vorgenommen eines der Werke von Annie Ernaux zu lesen. In Die Scham schreibt die Autorin über ihre frühe Kindheit in einem französischen Dorf der 1950er Jahre. Es sind Szenen, die mir als Kind der späten 1980er von Erzählungen meiner Eltern bekannt vorkommen. Ein Dorf, scheinbar abgeschottet von der großen weiten Welt mit einer eingefahrenen Dorfgemeinschaft, wo der Lebensweg eines jeden Kindes schon bei der Geburt vorbestimmt wird.
Körperliche Gewalt, Drohen und Ausschimpfen überschatten in der Erziehung die so wichtige Liebe und Fürsorge. Die Denkweisen sind eingeschränkt und festgefahren, wer nicht ins Schema passt, passt nicht in diese Welt. Freundschaften bleiben oberflächlich, Kranksein ist ein Makel, Alleinsein verwerflich und ein klares Schwarz-Weiß-Denken besiegelt den sozialen Status in der Gemeinschaft.
Annie Ernaux schreibt über ihre Familie und wie sie versucht, aus diesem sozialen Gefängnis auszubrechen. Erlebnisse, die ihre Kindheit geprägt haben und sie bis ins hohe Erwachsenenalter begleiten. Die Scham und Demütigung, welche sie dabei empfunden hat, waren für mich absolut greifbar und machten mich am Ende unglaublich dankbar, in einer anderen Generation groß geworden zu sein.
„Mir ist es wichtig, die Worte wiederzufinden, mit denen ich damals über mich selbst und die Welt nachdachte.“
S. 25
Die Scham von Annie Ernaux,
erschien 2020 im Suhrkamp Verlag.
110 Seiten
Org.Titel: La Honte
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